2005

Honiggeschichten

Buch, Softcover, 2005, abgebildet ist der Schutzumschlag.

Die Honiggeschichten sind ein Buch, das ich hauptsächlich im Jahr 2004 aus unterschiedlichen Texten zusammentrug und dann im Jahr 2005 im Eigenverlag drucken ließ. Erst im Anschluss, als es bereits vorlag, fand sich ein Verleger.

In dicken blauen Kladden, die jedem Tag des Jahres eine Seite zuweisen, hatte ich über Jahre hinweg Aufzeichnungen gemacht. Berücksichtigt waren Klima und Wetter, das Wachstum der Pflanzen, die Verfassung der Bienen, die Arbeit daran und allerlei Kleinigkeiten, die am Bienenstand erledigt wurden. Eine Zusammenstellung daraus ergab die erste Fassung.

Später gingen darin zusätzlich allgemeinere Texte ein, die vorwiegend Franz Wagner betrafen. Er war Hausmeister an der Akademie, hatte mir die ersten Bienen verkauft und mich über zehn Jahre hinweg eng betreut. Er war zu einem Freund geworden und ich hatte zahlreiche gemeinsam erlebte Geschichten zu erzählen. Oft waren wir auch nur bei ihm zuhause herumgesessen und hatten geredet. Wir sprachen unentwegt über Bienen, sei es auf dem Balkon mit Blick auf die Garagen des Hinterhofs oder in der Küche bei rohen Zwiebeln, Graubrot und Speck oder im Wohnzimmer, während nebenher der Fernseher lief. Im Grunde befanden wir uns in einem über zehnjährigen pausenlosen Austausch. Franz starb am 23. Januar 2004.

Sein Verlust schmerzte mich. Ich stand oft bei den Bienen und war ratlos und griff automatisch nach dem Handy in der Tasche. Denn ich hatte lange nach seinem Tod noch seinem Telefonanschluss eine Kurzwahltaste zugewiesen.

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I Due Leonardo

Ausstellung in Mailand in der galleria scoglio di quarto. Damals war noch ein zusätzlicher Raum angemietet, der Bazart hieß.

Gabriella Brembati ist meine Galeristin in Mailand. Ihr Mann Stefano Soddu ist ein sardischer Bildhauer. Zeitweise hatte Gabriella zwei Galerien, eine mit Namen Bazart in einem Gebiet, das sich Fünf Höfe nennt. Die Häuser dort sind die ältesten von Mailand, doch ist der Ort verdreckt und heruntergekommen. Dennoch gibt es einen Schlagbaum und eine müde Bewacherin, die in ihrem Kabuff Radio hört und vor sich hin dämmert. Sie lässt sich durch nichts überreden, den Schlagbaum ausnahmsweise für eine Anlieferung zu öffnen. Die vier vorderen Höfe beinhalten jeweils quadratische Rundgänge, durch die man in die Wohnungen gelangt. Über diese rundum laufenden Balkone sind haufenweise Leinen gespannt und es hängt vielfarbige Wäsche zum Trocknen. Die Häuser sind drei oder vier Etagen hoch. Man sieht wenig Himmel. Im letzten Hof befinden sich ein großes Atelier, Garagen und zwei Galerien. In der einen fand meine Ausstellung statt.

Die Arbeit mit den Papierflächen war riesig und ich konnte sie in meinem Atelier nicht aufhängen. Vor der Abfahrt nach Mailand legte ich einen längeren Streifen von einem Meter Breite in der Küche aus und verpackte die Arbeit, indem ich sie faltete.

In der Galerie wischte ich zunächst den Boden, der aus ziegelroten, glasierten Kacheln besteht. Ich legte die Streifen mit dem Gesicht nach unten auf den Boden und klebte sie aneinander. Während der Arbeit daran schauten Gabriella und Stefano gelegentlich vorbei. Einmal erzählte ich ihnen, mein Atelier sei so klein, dass ich nie mehr als einen Quadratmeter der Arbeit gesehen habe. Das Gesamtmaß jedoch betrug etwas über 33 m². Ich sagte, auch für mich selber werde es eine große Überraschung, wie die Flächen wirken würden.

Gabriella stieß einen Ruf des Entsetzens aus und musste an einem kleinen Tisch in der Ecke Platz nehmen. Sie saß dort und schaute mich ungläubig an.

Stefano begann zu lächeln: „Das gefällt mir“, sagte er, „erst einen Quadratmeter gesehen.“

Ich hatte etwa zwei Monate gebraucht, um die Arbeit zu bewältigen. Als ich sie schließlich aufgehängt hatte, sagte Stefano: „Die Arbeit ist wunderschön, sie gefällt mir sehr. Aber ich glaube, du spinnst völlig.“

I Due Leonardo

Hintergrund dieser Ausstellung ist, dass ich bei der Komposition meiner Bienenarbeiten zunehmend den Goldenen Schnitt verwende. Gerade in den Papierarbeiten erscheint er mir häufig einleuchtend. Ich stehe vor der Frage nach der Anordnung und meistens kommt heraus, dass das intuitiv Gefundene nahe am Errechneten liegt. Daher war es mir ein Anliegen, die Angelegenheit auf die Spitze zu treiben und einmal im großen Format darauf einzugehen.

Der Goldene Schnitt ist ein geometrisches Teilungsverhältnis. Er taucht zuerst in der Antike auf. Euklid, der Grieche, präzisierte 300 v. Chr.: „Eine Strecke heißt stetig geteilt, wenn sich, wie die ganze Strecke zum größeren Abschnitt, so der größere Abschnitt zum kleineren verhält.” 200 Jahre später stellte Vitruv eine Verbindung zu den Maßverhältnissen des menschlichen Körpers her und machte daraus eine Verbindlichkeit der Architektur. In der Renaissance wurde der Goldene Schnitt unter der Bezeichnung Göttliche Teilung wieder aufgegriffen. Das wirft bereits ein Licht auf die Bedeutung, die er später bekommen sollte. Algebraisch ist die Teilung so beschrieben: Wurzel aus fünf minus eins, geteilt durch zwei. Eine sogenannte irrationale Zahl, sie endet nicht hinter dem Komma.

Leonardo da Vinci beschäftigte sich vor allem in seiner Mailänder Zeit ausgiebig mit Geometrie. Es heißt, er soll Modelle der Platonischen Körper nicht nur gezeichnet, sondern auch gebaut haben; das sind vielflächige und vielkantige Kugelinhalte, mit deren Hilfe in der Antike das Universum erklärt wurde. Zu ihrer Konstruktion ist mitunter der Goldene Schnitt nötig. Weiter lieferte Leonardo da Vinci zahlreiche Illustrationen zu einem Mathematikbuch. Darunter ist die besonders berühmte, häufig bemühte Zeichnung des Vitruvianischen Menschen: Ein nackter Mann mit vier Armen und vier Beinen, der einem Kreis und einem Quadrat einbeschrieben ist.

Der zweite Leonardo im Titel ist der aus Pisa, ein Mathematiker aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert, der heute, wenn überhaupt, als Fibonacci bekannt ist. Er revolutionierte die damalige Mathematik, indem er die indische Rechenkunst einführte. Seine Lebensleistung ist, dass heute jeder nach dem von ihm importierten System rechnet. Allerdings wird er dafür wenig gewürdigt. In Mathematikerkreisen ist er berühmt für die Entdeckung einer einfachen Zahlenfolge. Sie lautet: 0-1-1-2-3-5-8- 13-21-34-55-89- … . Man erhält die jeweils nächste Zahl als Summe der beiden vorhergehenden. Eine Besonderheit der sogenannten Fibonacci- Reihe ist, dass sie sich mit aufsteigendem Zahlenwert unablässig dem Goldenen Schnitt nähert, ohne ihn je ganz zu erreichen.

In der Romantik wurden beide, der Goldene Schnitt und die Fibonacci-Reihe, mit einer gewissen Zahlenmystik aufgeladen.

In der Natur sind sie als unterliegendes Prinzip allerorten auffindbar, in Sonnenblumen, Tannenzapfen, Schneckenhäusern und Seesternen. Erst in jener Epoche bekamen sie die exklusive Bedeutung zugewiesen, die sie heute haben.

Die Flächen in der Ausstellung gehen einerseits auf die architekturalen Gegebenheiten ein, andererseits sind sie Fibonacci-Rechtecke. Das größere der beiden zum Beispiel besteht aus 55 mal 89 Quadraten. Das ergibt eine Fläche von 3,85 Metern Höhe mal 6,35 Metern Breite. Monumental und doch leicht.

Welcher Aufwand zur Anfertigung der Arbeit nötig war, kann man sich vorstellen, wenn man die Anzahl der Quadrate berechnet. Es sind genau 6765 Stück, ebenfalls eine Fibonacci-Zahl. Allerdings ist meine Auffassung ohne die geheimnisvollen Zahlenspielereien der Romantik gedacht. Manchmal lege ich Arbeiten so an, dass ihre Ausführung erfordert, in langwierige, gleichförmige Tätigkeiten einzutauchen. In der Präsentation drängt sich der Aufwand aber nicht auf. Auch die komplexen Hintergründe, der Goldene Schnitt und die Fibonacci-Reihe, ziehen sich zurück. Im Vordergrund steht das sinnliche Erleben.

(eigener Text zur Ausstellung)

In Mailand begleiteten mich meine Tochter Sumile und deren Mutter T. Sumile saß mit ihrer orangefarbenen Mütze in ihrem Klappwägelchen und lächelte. Sumiles Mutter hatte sich ganz in den Schatten zurückgezogen, da die Temperatur in der Stadt tagsüber 35Æ C erreichte. Als Helferin hatte ich eine Freundin gebeten, uns zu begleiten. Obwohl ich alles sorgfältig vorbereitet hatte, traute ich mir den Aufbau nicht allein zu. So bewegten wir beide uns in Strumpfsocken über die länglichen, nebeneinander ausgelegten Streifen umgedrehten Papiers und klebten sie auf der Rückseite zusammen. Das eigentliche Problem jedoch bestand in der Höhe des Raumes. Stefano hatte mir mitgeteilt, die Wände seien genau vier Meter hoch. Das stimmt, doch auf etwa 3,70 Metern befinden sich zwei in die Wand eingelassene Doppel-T-Träger, die den Raum durchqueren. Da meine Flächen 3,85 Meter hoch sind, stand ich vor einem Problem, das ich nicht hatte vorhersehen können. Ich setzte mich, scheuchte die anderen fort und erwog die Möglichkeiten. Schließlich entschied ich mich, die Arbeit direkt unterhalb der Stahlträger zu befestigen und sie am Boden – wie auf den Fotos zu sehen – zur Wand hin einzuschlagen. Diese Entscheidung war mir aufgezwungen, aber sie gab der Arbeit schließlich den endgültigen Schliff.

Prompt, als die Arbeit hing, erschienen Gabriella und Stefano. Wir waren alle von der Erscheinung beeindruckt. Stefano klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Du hast Mut.“

Zur Eröffnung bereitete Gabriella eine Broschüre vor, in die der ins Italienische übersetzte Text über die beiden Leonardos gesteckt war. Genau genommen entwarf Gabriella ein Konzept, während Stefano und ich mit dessen Ausführung betraut wurden. Wir fuhren in seinem Auto durch Mailand, zu Copyshops und Fotogeschäften, und ratschten. In der Broschüre lagen auch zwei Fotos des Papiers, das ich verwendet hatte. Eines zeigt einen ganzen Packen, der in Plastik eingeschweißt ist, das andere eine Schachtel voll der Quadrate, die im Maß sieben Zentimeter mal sieben Zentimeter geschnitten sind. Die Blätter werden so hergestellt, dass eine dünne silbrige Metallschicht auf dickes, holziges Papier gewalzt wird. Vermutlich besteht das Silber aus Zink oder Aluminium, dachte ich. Danach wird mit einem breiten Pinsel ein rotgelber Farbton über das Papier gewaschelt, worauf die Metallfläche in einem unbestimmbaren Goldton schimmert. Das Papier stammt aus China und wird joss-paper genannt. Joss bedeutet Pagode. Es wird für rituelle Zwecke benutzt, beispielsweise zündet man es an, wenn jemand gestorben ist. Und auf der Packung wird ausdrücklich darum ersucht, es nicht für Belanglosigkeiten zu verbraten. Der Großhandel, von dem ich es bezogen hatte, heißt ASIAEURO. Stefano setzte den Namen als Bezeichnung unter die beiden Fotos. Als Gabriella die fertige Broschüre sah, deutete sie auf den Firmennamen und sagte: „Das ist ein Leitmotiv.“

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Finnegans Wake

Die ersten Male, nachdem ich den Wake aufgeschlagen und zu lesen begonnen hatte, war ich spätestens nach eineinhalb Seiten eingeschlafen. Dann begann ich, mir Passagen laut vorzulesen und stellte überrascht fest, dass er musikalisch angelegt ist. Joyce hatte ein starkes Augenleiden, das rasch um sich griff und ihn Jahr für Jahr weniger sehen ließ. Letztlich fasse ich Finnegans Wake, bildhauerisch gesprochen, als Steinbruch auf. Joyce stellt darin etwas zur Verfügung. Der Wake erschloss sich mir in erheblichem Umfang, als ich begann, zahlreiche Teile daraus Buchstabe für Buchstabe zu stempeln und den Worten nachzuspüren. Seither benutze ich Finnegans Wake in diesem Sinn.

(Wenn man jedes Wort, im Fall des Wake meistens Kunstworte, in seinen kleinsten Teilen fasst, erscheint er in seinem ursprünglichen Zustand. Alle Bestandteile, die künstlich zusammengezogen wurden, fallen auseinander. Im Anschluss schälen sich Sätze heraus, die – bildlich gesprochen – mehreren Erzählsträngen gleichzeitig folgen.)

John Cage sagt: „Finnegans Wake ist das einzige Buch, das ich immer geliebt, aber nie gelesen habe.“

Während sich der Ulysses noch eindeutig übersetzen lässt, ist das beim Wake trotz zahlreicher Bemühungen und Verrenkungen nicht mehr möglich. Viele Worte sind künstlich und weisen, da sie aus mehreren Versatzstücken zusammengezogen sind, in unterschiedliche Richtungen. Tatsächlich gibt es kein vergleichbares Werk. Vermutlich nimmt es moderne Informationstheorien vorweg. Zumindest ist es kein Buch, das als Ziel hat, den Leser auf herkömmliche Weise über etwas zu unterrichten oder ihn zu unterhalten. Viele sehen das letzte Kapitel des Ulysses, in dem der (vermeintliche) Bewusstseinsstrom von Molly Bloom aufgezeichnet ist, in den Wake münden. Das halte ich für viel zu kurz gegriffen. Finnegans Wake geht weit darüber hinaus. Die riesigen Sprünge zwischen den einzelnen Büchern von Joyce sind derart revolutionär, dass ich ihn lange Zeit nicht einmal für einen richtigen Schriftsteller hielt.

Ich stieß schnell auf die literaturwissenschaftliche Abhandlung mit dem Titel Vielfacher Schriftsinn von Klaus Reichert. Darin wird analysiert, wie Joyce die Satzstrukturen bis hin zum einzelnen Wort aufbricht. Die Rechnungen, wieviele Sprachen Eingang fanden, fallen unterschiedlich aus. Manche sagen, es seien achtzig bis hundert. Joyce hat 16 Jahre gebraucht, um es zu schreiben, von 1923 bis 1939. Er lebte in Paris, verlegte aber wegen der Besetzung von Paris durch die deutsche Wehrmacht im Jahr 1940 seinen Wohnsitz und den seiner Familie in die Schweiz. Er starb Anfang des Jahres 1941 in Zürich.

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bulb

Ausstellung mit Gussobjekten im Kunstverein Ebersberg. Eröffnungsrede Hubert Mayer

Manche Studenten unserer Klasse arbeiteten mit Stearin oder Gießereiwachsen, die eine ähnliche Beschaffenheit haben wie Bienenwachs, nur dass sich durch Zuschläge die Verflüssigungstemperatur beeinflussen lässt. (Bienenwachs schmilzt bei etwa 60° C.) Mir, der ich sozusagen im Wachs versinke, fehlte der vollständige Bezug. Die Blöcke stapelten sich im Atelier und ich wusste nicht recht, was ich damit anfangen konnte. Wenn man als Künstler mit Bienen arbeitet, liegt Wachs als Werkstoff möglicherweise zu nahe. Erst die Glühbirnenarbeit verschob die Proportion zugunsten des Skulpturalen.

Glühbirnen hatten eine genormte Form. Sie unterschieden sich in Lichtstärke und -farbe und natürlich durch den Hersteller. Der war mithilfe eines aufgedruckten Firmenlogos repräsentiert. Osram beispielsweise hat einen runden Schriftzug mit 18 Millimeter Durchmesser an der Oberseite. Meine apicultura-Stempel sind ebenfalls rund, deshalb ließ ich einfach einen weiteren mit 18 Millimetern fertigen.

Aus der inneren Logik der Plastik musste ich für sie einen Prägestempel herstellen. Blei ist dafür ein gutes Material. Für den Guss der Glühbirnen genügte eine simple zweiteilige Form. Aber den Gummistempel in Blei umzugießen, war die kniffligste Aufgabe. Die Buchstaben sind sehr fein geschnitten, und das größte Problem verursachte die Gipsform. Es dauerte Tage. Das Einfachste war, eine Schraube mit einzugießen, damit sich alles auf einem Holzgriff befestigen ließ. Als Objekt sieht es zu gefällig aus. Aber es besaß seine Notwendigkeit, denn das Blei wurde im Ölbad erhitzt, damit die Schrift heiß geprägt werden konnte.

Mit Manfred Ellenrieder hatte ich ein Gespräch über das Vorfinden. Er hatte zugesagt, einen Text für einen Katalog zu schreiben, und er brauchte einige Anhaltspunkte.

Ich sagte: „Was diesen Gesichtspunkt betrifft, unterscheiden sich meine frühesten Arbeiten, die vor zwanzig Jahren entstanden sind, in nichts von den heutigen.“

Er antwortete: „Was wir sagen wollen, lässt sich mithilfe des bereits Bestehenden sagen. Wir müssen nichts erfinden, sondern die Augen offen halten.“

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