Monat: Januar 2022

hic sunt leones

Das Buch Die Sprache der Bienen von J. Tautz erschien im Jahr 2021. Ich stieß darauf und kaufte es mir sofort, da ich glaubte, darin seien zahlreiche Fragen zur Bienenkommunikation, die sich in mir angesammelt hatten, endlich beantwortet worden. Beispielsweise hatte ich angefangen, mir über Phänomene Gedanken zu machen, die bei den Bienen als Fehlleistungen eingestuft werden. Dazu gehört explizit das „Verfliegen“. Eine Biene fliegt „versehentlich“ in einen anderen Stock, bringt Nahrung mit und wird eingelassen, bringt womöglich aber auch Krankheiten mit beispielsweise die gefürchtete Varroamilbe. Eine gegensätzliche Deutung, die ich in Betracht zog, war dass auf diesem Weg Informationen ausgetauscht werden. Auf dieselbe Weise gelangte ich zu mehreren offenen Fällen. Einer betrifft den Informationsaustausch von Stöcken, die am selben Bienenstand stehen. Es heißt, dass sie voneinander unabhängig sind. Meine Frage ist, ob es Bereiche gibt, in denen sie als Ganzes agieren. Doch bereits die Befruchtung einer Königin aus dem einen Volk durch eine Drohne aus einem anderen Volk, muss als Austausch genetischer Information gesehen werden. Auf diese Weise summierten sich nicht nur Fragen, sondern sie hätten auch in eine Ordnung gebracht und solide beantwortet werden müssen. Für mich ist Wissenschaft hier nicht Selbstzweck, wie ihr gelegentlich unterstellt wird. Ich erwarte Antworten.

Nachdem ich das Buch durchgearbeitet hatte, war ich zunächst enttäuscht. Die meisten meiner Fragen blieben unbeantwortet. Der Titel „Sprache“ erschien mir maßlos überzogen. Zudem fand ich heraus, dass Herr Tautz mittlerweile emeritiert worden war. Allerdings enthielt das Buch zahlreiche neue Erkenntnisse sowie Neudeutungen oder Umdeutungen zum Bienentanz und den fast ein Jahrhundert dauernden Querelen darum. Dass Bienen so genannte Tänze vollführen, wurde bereits von Aristoteles beobachtet. Dass darin eine Sprache verborgen ist, wurde von Karl von Frisch in den Zwanzigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts näher beobachtet und erforscht und trug ihm viele Jahre später einen Nobelpreis ein. Nun gibt es Befürworter einer sehr engen Sichtweise, die glauben, eine junge Suchbiene werde durch die tanzähnliche Bewegung einer älteren Biene auf dem Wabengrund zur Futterquelle geschickt. Berücksichtigt man, wie klein Bienen sind und wie weit sie fliegen, wird diese These ins Absurde gerückt. Ein Winkelgrad Abweichung beim Tanz bewirkt in einer Entfernung von 3 km mehr als 50 m Unterschied. Der Durchmesser des Kreises, innerhalb dessen sich die Vortänzerin bewegt, beträgt aber kaum 5 cm. Diese gehäuften Unmöglichkeiten geben Gegnern von Karl von Frischs Entwurf reichlich ablehnende Argumente. (An dieser Stelle lugt ein Stück Wissenschaftsgeschichte in den Raum.) Das geht bis dahin, dass eine ganze Schule um einen heutigen Wissenschaftler den Bienentanz als Informationsweitergabe ganz ablehnt und ihm eine andere, wenngleich noch nicht bekannte Funktion zumisst.

Herr Tautz präsentiert in seinem Buch ein neues dreistufiges Modell, mit dem beide verfeindete Schulen vereint werden können. Herr Tautz hat – elegant, wie ich finde – die beiden bislang unvereinbaren Erklärungsweisen verbunden, indem er in die Mitte einen neutralen Raum gesetzt hat. Der kann von beiden Parteien nicht betreten werden. Herr Tautz leistet sozusagen die Arbeit eines Mediators. Anfangs gibt es weiterhin den Bienentanz, mit dessen Hilfe junge Sammelbienen in eine ungefähre Richtung geschickt werden. Am Schluss finden die Bienen mithilfe von Duft und Farbe sowie durch die Unterstützung älterer Bienen zur Blüte. Am Anfang steht das Schicken, am Ende das Locken. Dazwischen liegt ein Suchraum, der sich bislang nicht erforschen lässt. Das hängt, wie Herr Tautz ausführt, damit zusammen, dass die bisherigen Messverfahren nicht weit genug entwickelt sind. Herr Tautz macht sich die Zeit zunutze, er verschiebt die Aufklärung in die Zukunft. Letztlich geht das Modell aber weiter. Es setzt dorthin, wo Unwissenheit herrscht, das Unbekannte. Es öffnet sozusagen ein Feld für Spekulationen. Das erinnert mich an frühe Landkarten, auf denen bislang unbekannte Gebiete zwar umgrenzt waren, deren ungefähre Form und Größe man also kannte, die im Inneren jedoch nichts enthielten. Manchmal stand als Platzhalter in solchen leeren Flächen der lateinische Spruch: hic sunt leones (hier sind Löwen). Das ist ein Hinweis auf die Gefahr, die vom Erforschen ausgeht. (Manchmal lebten in den unerforschten Arealen auch wirklich Großkatzen.) Während das Wissen dann wieder ein ungefährliches Fahrwasser ist. Ähnlich steht es vielleicht um den betreffenden Bereich in der Bienenkommunikation. Mit dem Suchraum hat Herr Tautz sowohl eine Verlockung geschaffen, als auch ein Gefahrenschild aufgestellt. Welcher Wissenschaftler möchte nicht in den bisher unentdeckten Bereich hineinschauen – und sich damit hervortun – oder scheitern?

Professor Tautz, langjähriger Leiter der bee-group an der Universität Würzburg, weltweit anerkannter Bienenforscher, wirft Karl von Frisch vor, hauptsächlich die Vorgänge im Bienenstock studiert zu haben, was gleichzeitig bedeutet, von Frisch habe zu wenig untersucht, wie sich Sammlerinnen draußen verhalten, wie dort Informationen übermittelt werden und so weiter. Herr Tautz macht dann allerdings das gleiche. Zwar fördert er unzählige neue Forschungsergebnisse zutage, die von Frisch nicht erkennen konnte, weil die Messgeräte dafür noch nicht existierten und er sich häufig auf das bloße Auge verlassen musste, lässt dann aber die Vorgänge im Feld weitestgehend außer acht. Wahrscheinlich ist die Beliebtheit des Bienenstockes als Untersuchungsort in diesem Fall seiner Immobilität geschuldet. Flöge der mit den Bienen davon, wäre man beim Studium von Biene & Blüte längst weiter. „Warum in die Ferne schweifen …“, schrieb Deutschlands Rockstar. Herr Tautz dehnte den so genannten Suchraum, mithin das Unbekannte, bis ins Äußerste, bei ihm endete er quasi einen halben Meter vor der Blüte.

In der Bildhauerei kann ein unbestimmter Raum beziehungsweise Unbestimmtheit (Indeterminacy) eine Steilvorlage sein.

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